15 October, 2006


Armeniens Aussenminister kritisiert die Türkei scharf und misst dem Schweizer Antirassismusgesetz hohe Bedeutung bei

NZZ am Sonntag: Der Genozid an den Armeniern ereignete sich vor 90 Jahren - trotzdem ist er derzeit täglich in den europäischen Medien präsent. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Vartan Oskanian: Weil die Tatsache, dass ein Völkermord seit 90 Jahren geleugnet wird, nicht nur für das betroffene Volk ein Thema ist, sondern für die ganze Menschheit. Auch im 21. Jahrhundert können sich Genozide ereignen, in Afrika oder anderswo. Um das verhindern zu können, ist es wichtig, dass frühere Völkermorde anerkannt und verurteilt werden.

Was bedeutete die Geschichte Ihres Volkes in Ihrem persönlichen Leben?

Als Aussenminister vertrete ich die Nation, die Opfer dieses Genozids wurde. Darum habe ich die moralische Verpflichtung, auf eine Verurteilung dieses Verbrechens hinzuwirken. Als Mensch bin ich betroffen, weil ich aus der armenischen Diaspora stamme. Ich wurde 1955 in Syrien geboren und wuchs dort auf mit den Erzählungen meiner Grosseltern und denen vieler anderer Armenier, die aus der Türkei deportiert wurden und zu Fuss durch die Wüste fliehen mussten. Dass diese Geschehnisse und Erinnerungen meines Volkes von der Türkei bis heute nicht verurteilt und nicht einmal anerkannt werden, bedeutet faktisch eine Fortsetzung des Genozids. Als Aussenminister habe ich aber die Aufgabe, in die Zukunft zu blicken und zu versuchen, mit der Türkei normale Beziehungen zu etablieren.

Die Türkei schlägt eine gemeinsame Historikerkommission vor, um die Frage zu klären. Was sagt die Republik Armenien dazu?

Wir können diesen Vorschlag nicht ernst nehmen: Erstens verschweigt die Türkei, dass unser Präsident Robert Kotscharjan dem türkischen Premier Erdogan längst geantwortet hat. Zweitens stellt der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes nach wie vor all jene unter Strafe, die den Begriff Genozid auch nur in den Mund nehmen. Drittens verweigert die Türkei die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und weigert sich sogar, die Grenze zu Armenien zu öffnen. Unter diesen Umständen eine solche Kommission vorzuschlagen, ist unlauter.

Was schlägt denn Armenien vor?

Unser Präsident hat Erdogan mitgeteilt, dass Armenien bereit ist zum Gespräch, sobald die Grenzen geöffnet werden und sobald es bilaterale Beziehungen gibt. Wenn dies der Fall ist, kann eine intergouvernementale Kommission diese Frage diskutieren.

Könnte die Schweiz hier vermitteln?

Viele Länder haben schon zu vermitteln versucht. All diese Versuche scheiterten aber an den fehlenden Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien. Zuerst muss die Türkei dieses Hindernis beseitigen.

In der Schweiz ist ein Anti-Rassismus- Artikel in Kraft, der die Leugnung von Genoziden unter Strafe stellt. Bundesrat Christoph Blocher hat diesen Artikel scharf kritisiert. Was sagen Sie dazu?

Ich möchte die Aussagen Ihres Justizministers nicht kommentieren. Armenien mischt sich nicht in die schweizerische Gesetzgebung ein.

Wird Armenien auf Blochers Aussagen diplomatisch reagieren?

Nein.

Nun hat auch Frankreichs Parlament ein Gesetz beschlossen, das die Leugnung des Genozids unter Strafe stellt. Sind solche Gesetze ein guter Ansatz?

Die Anerkennung des Genozids ist für uns nicht ein Ziel an sich. Armenien hat auch kein Interesse daran, die Türkei zu erniedrigen. Wir wollen aber das Hindernis, das die türkische Leugnung darstellt, eliminieren. Nur so kann es normale bilaterale Beziehungen und eine Aussöhnung geben. Ob das französische oder das schweizerische Gesetz ein guter Ansatz ist, ist schwierig zu sagen. Es gibt aber noch einen anderen Blickwinkel.

Nämlich?

Nachdem der Genozid seit so langer Zeit geleugnet wird, ist die Anerkennung durch das französische und das schweizerische Parlament für uns grosse Genugtuung. Es ist auch eine normale Reaktion auf die offizielle, aggressive Leugnung des Völkermordes durch den türkischen Staat. Man darf nicht vergessen, dass die Türkei sogar versucht, ihre Ideologie des Leugnens zu exportieren. Die Türkei hat das englische, das russische und andere Parlamente aufgefordert, die türkische Haltung zu übernehmen.

Kritiker sehen durch solche Gesetze die Meinungsfreiheit gefährdet.

Ich bin einverstanden, dass die Geschichte normalerweise nicht in Gesetzen festgeschrieben werden sollte. Aber wir sind nicht in einer normalen Situation, weil die Türkei selber die Erwähnung des Genozids gesetzlich untersagt. Gesetze wie das französische oder das schweizerische haben mehr symbolische Bedeutung. Frankreich insbesondere schickt damit eine Botschaft an die türkische Regierung. Diese lautet: «Wenn ihr der EU beitreten wollt, könnt ihr nicht weiter eure Geschichte leugnen.»

Der Literatur-Nobelpreis ging an den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk, der den Genozid ebenfalls anerkennt. Was bedeutet dies in Ihren Augen?

Armenien begrüsst den Entscheid des Nobelpreis-Komitees sehr. Die intellektuelle Ernsthaftigkeit und Offenheit, mit der Orhan Pamuk solch schwierige und schmerzvolle Fragen der nationalen Identität angeht, sind der richtige Weg für die Zukunft.

Interview: Markus Häfliger

«Die Anerkennung des Völkermordes durch das schweizerische Parlament ist eine grosse Genugtuung.»

Armenien im Fokus
Der türkische Genozid an den Armeniern im Jahre 1915 ist derzeit hochaktuell: Am 4. Oktober erntete Bundesrat Christoph Blocher Proteste, weil er kritisiert hatte, dass zwei Türken wegen Leugnung des Genozids von der Schweizer Justiz verfolgt werden. Am 12. Oktober beschloss die französische Nationalversammlung, die Leugnung des Genozids unter Strafe zu stellen. Gleichentags erhielt der türkische Autor Orhan Pamuk, der den Genozid anerkennt, den Literaturnobelpreis. (hä.)

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